25 Jahre Benachteiligungsverbot - Politik für Menschen mit Handicap

Politik für Menschen mit Handicap
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„Was nicht erst getrennt wird, muss hinterher nicht integriert werden.“ (Richard von Weizsäcker , ehemaliger Bundespräsident)

25 Jahre Benachteiligungsverbot


Urteil zu Zeugnisbemerkungen bei Behinderung

Acht Jahre (!) mussten die Kläger (die Klage wurde laut einem Medienbericht ausschließlich von Männern geführt) auf dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) warten nun haben sie endlich Klarheit und ihre Verfahren vor dem höchsten deutschen Gericht gewonnen. Drei von Legasthenie betroffene ehemalige Schüler, die im Jahr 2010 an bayerischen Schulen das Abitur abgelegt hatten, wehrten sich mit ihren Klagen gegen Vermerke in ihren Abiturzeugnissen, dass bei der Abiturprüfung ihre Rechtschreib-Leistungen nicht bewertet worden waren. Sie führten zur Begründung u.a. an, dass derartige Vermerke in Zeugnissen von Schüler*innen mit anderen Behinderungen, bei denen ebenfalls Teilleistungen behinderungsbedingt nicht bewertet worden waren, nicht angebracht wurden. In seinem am 22. November 2023 verkündeten Urteil (Az. 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2579/15, 1 BvR 2578/15) gibt das BVerfG den Klägern im Wesentlichen Recht. In seiner Urteilsbegründung führt es aus, dass derartige Zeugnisbemerkungen zwar einerseits Klarheit über die tatsächlich erbrachten Prüfungsleistung verschaffen, andererseits aber auch für ihre Adressaten eine Benachteiligung darstellen können, weil bei ihnen eine bestimmte, sich möglicherweise negativ auf spätere Einstellungschancen auswirkende Eigenschaft öffentlich wird. Gleichzeitig könnten sie aber auch Chancen eröffnen. Zeugnisbemerkungen seien nicht nur angemessen, sondern in bestimmten Fällen sogar geboten. Dennoch sei die Praxis in der Schulgesetzgebung des Landes Bayern des Jahres 2010 für die klageführenden Menschen diskriminierend gewesen, weil sie nur auf legasthenische Schüler*innen, nicht aber auf solche mit anderen Behinderungen angewendet worden sei, bei denen behinderungsbedingt Teilleistungsbereiche nicht benotet wurden.

Obwohl also die Klage insoweit erfolgreich war, sind nicht alle Betroffenen mit dem Urteil zufrieden. Einige von Legasthenie betroffene Menschen hätten es lieber gesehen, wenn die Zeugnisbemerkungen untersagt worden wären, weil sie Nachteile bei Bewerbungen befürchten („Wer stellt schon jemanden ein, der nicht fehlerfrei schreiben kann?“). Andererseits ist mit diesem Urteil zweifelsfrei geklärt, dass es sich bei Legasthenie um eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG handelt; wer von ihr betroffen ist, genießt folglich den durch diesen Grundgesetz-Artikel garantierten Schutz vor Diskriminierung. Zugleich trifft dies vermutlich auf alle Einschränkungen von Schüler*innen zu, die nicht im Wege von Fördermaßnahmen ausgeglichen werden können (das Gericht stellt in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich fest, dass ein solcher Ausgleich für legasthenie-betroffene Menschen nicht möglich ist. (Wichtiger Hinweis: Bei dieser Meldung handelt es sich um eine vorläufige Darstellung des Urteils auf der Basis der am Tag seiner Verkündung auf der Homepage des BVerfG veröffentlichten Pressemeldung. Das Urteil selbst (Link s. weiter oben) habe ich mir noch nicht im Einzelnen ansehen können. Einen sehr aufschlussreichen Artikel zum Thema habe ich auf der Webseite von Deutschlandfunk Kultur gefunden. Sobald ich das Urteil im Wortlaut gelesen und analysiert habe, wird dieser Artikel entsprechend aktualisiert werden.)

Meine Meinung: Nach meinen (vorläufigen [s.o.]) Erkenntnissen ist dem Urteil im Wesentlichen beizupflichten. Zwar bedeuten die mit der Klage angegriffenen Zeugnisbemerkungen im Einzelfall, dass ihren Adressaten der Zugang zu einigen Berufen bzw. Berufszweigen erschwert oder sogar verschlossen bleiben wird; das hat auch das BVerfG in seiner Urteilsbegründung eingeräumt. Andererseits wäre ohne sie nicht von vornherein klar, dass die betroffenen Menschen bestimmten Anforderungen, die üblicherweise an Inhaber eines solchen Abschlusses gestellt bzw. deren Erfüllung von ihnen üblicherweise erwartet werden kann, nicht genügen können. Insofern können sie auch ihrem Schutz dienen: die Gefahr, eine unter nicht erfüllbaren Erwartungen erlangte Stelle bald wieder verlieren zu können,.wird minimiert. Dies muss letztlich sowohl im Interesse des Arbeitgebers als auch des Arbeitnehmers liegen; letzterer sollte schließlich auch daran interessiert sein, eine einmal erlangte Stelle möglichst dauerhaft behalten zu können. Spannend dürfte die Umsetzung des Urteils im Rahmen der Schulgesetzgebung der Länder werden; hier werden Neuregelungen gefunden werden müssen. Eine weitere Frage stellt sich mir zum Abschluss: Weshalb hat das Gericht acht Jahre gebraucht, um zu diesem Urteil zu gelangen (bereits in meiner zuletzt am 18. Februar 2020 aktualisierten Zusammenstellung von Urteilen des BVerfG zum Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung hatte ich unter der Überschrift „Ausstehende Entscheidungen“ auf diese drei anhängigen Verfahren hingewiesen; in der Folge konnte ich bei mindestens zwei Nachfragen bei der Pressestelle des BVerfG [jeweils zum Jahresende 2020 und 2021] keinen Hinweis erhalten, wann mit einer Entscheidung in diesen Verfahren zu rechnen sei)?


Schutz behinderter Menschen bei Triage-Entscheidungen

Noch immer – wir schreiben den letzten Tag des Jahres 2021 hat die Covid-19-Pandemie auch Deutschland voll im Griff. Wie bereits im Sommer 2020 sind die Intensivstationen der deutschen Krankenhäuser in vielen Städten und Regionen an der Grenze ihrer Belastungs- und damit Aufnahmefähigkeit angelangt. Wieder ist nicht auszuschließen, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, wer das letzte freie Bett bekommen soll. Als diese „Triage genannte Situation im Sommer 2020 einzutreten drohte, sahen neun Menschen mit Behinderung die Gefahr, dass ihnen wegen ihrer Behinderung eine Diskriminierung drohe, bis hin zur Verweigerung lebensrettender Maßnahmen. Sie zogen vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und forderten von diesem die Feststellung, dass der Gesetzgeber tätig werden müsse, um derartiges zu verhindern. Bisher ist es nämlich so, dass es als Entscheidungshilfe für die Ärztinnen und Ärzte in diesen Fällen lediglich Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gibt, die zwar von der Ärzteschaft allgemein anerkannt werden, aber eben anders als eine gesetzliche Regelung als unverbindlich angesehen werden müssen.

Am 16. Dezember 2021 entschied das BVerfG über diese Verfassungsbeschwerde in Gestalt eines Beschlusses, der am 28. Dezember 2021 veröffentlicht wurde. Darin stellt es fest, der Gesetzgeber sei wegen des in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes geregelten Benachteiligungsverbots im Ergebnis verpflichtet gewesen, gesetzliche Regelungen zu treffen, um eine Diskriminierung behinderter Menschen bei Triage-Entscheidungen zu verhindern (besonders pikant hieran ist, dass die Bundesregierung in einer Stellungnahme zu diesem Verfahren eine solche Verpflichtung nicht gesehen hatte). Zwar bemühten sich die Empfehlungen der DIVI, eine solche Diskriminierung zu verhindern; sie könnten dies aber nicht hinreichend sicherstellen. Wer nicht den ganzen Entscheidungstext lesen mag, findet hier eine von mir erstellte Zusammenfassung der wichtigsten Elemente der Begründung.

Doch diese Entscheidung des BVerfG stößt nicht nur auf Zustimmung. Interessant ist hier zunächst das Interview, das der ehemalige Präsident der DIVI und Mitautor der erwähnten Empfehlungen, Prof. Dr. Uwe Janssens, den „tagesthemen am Tag der Veröffentlichung des Beschlusses gab. Darin erweckt er den Anschein, in der BVerfG-Entscheidung würden diese Empfehlungen gutgeheißen, und eine gesetzliche Regelung sei eher überflüssig. Stattdessen bat er auch die Richterinnen und Richter des BVerfG um „Vertrauen“ in die Ärzteschaft. In einer E-Mail vom 29. Dezember 2021 machte ich ihn darauf aufmerksam, dass dem Begründungstext der Entscheidung gerade zu entnehmen sei, dass die DIVI-Empfehlungen gerade keine hinreichende Gewähr dafür böten, Diskriminierungen behinderter Menschen bei Triage-Entscheidungen verhindern zu können. Den sich hieraus entwickelnden E-Mail-Schriftverkehr stelle ich Ihnen an dieser Stelle gerne zur Verfügung. Ergänzend hierzu finden Sie hier auch die von Prof. Janssen erwähnte kritische Stellungnahme des auch in der BVerfG-Entscheidung erwähnten Bochumer Staatsrechtlers Prof. Huster; dieser habe ich zudem noch den Schriftsatz entnommen, mit dem die Verfassungsbeschwerde im Sommer 2020 erhoben wurde.

Meine Meinung: Die in dem E-Mail-Verkehr und der Stellungnahme von Prof. Huster geübte Kritik an der BVerfG-Entscheidung macht deutlich, wie defizitär immer noch gerade ärztliches Wissen um das Wesen von Behinderung und die aus ihr resultierenden Erfordernisse sind. Geradezu erschreckend finde ich, wie sich Prof. Huster in seiner Kritik mit seinen juristischen Spitzfindigkeiten auf Nebenschauplätze begibt und auf die Kernfrage, ob denn die DIVI-Empfehlungen nun tatsächlich die Diskriminierung behinderter Menschen bei Triage-Entscheidungen verhindern können oder wovon die Verfassungsrichter ausgehen eben nicht, gar nicht eingeht. Trotz der für mich durchaus erstaunlichen Tatsache, dass Prof. Janssens überhaupt auf meine Kritik reagiert hat, zeugt seine Reaktion doch andererseits von einer gewissen Einsichtslosigkeit und Arroganz. Sollte dieser Meinungsaustausch im Jahr 2022 eine Fortsetzung finden, werde ich an dieser Stelle darüber berichten.


Blindenführhund darf in Arztpraxis

Die erste Entscheidung, die das BVerfG nach dem „Jubiläum“ des Benachteiligungsverbots wegen Behinderung (s. den nachfolgenden Artikel) zu treffen hatte, betraf die Frage, ob es einer blinden Frau verweigert werden darf, mit ihrem Blindenführhund eine Arztpraxis zu durchqueren, um in die Praxis des Physiotherapeuten ihrer Wahl zu gelangen. Dies wurde ihr mit dem Hinweis auf „hygienische Gründe“ verweigert. Nachdem die Klage vor dem Berliner Landgericht und das Berufungsverfahren vor dem Kammergericht erfolglos geblieben waren, erhob die Frau Verfassungsbeschwerde. Diese war erfolgreich: Mit Beschluss vom 15. Januar 2020 entschied der 2. Senat des BVerfG, dass die Entscheidung des Berliner Kammergerichts die Frau in unzulässiger Weise in ihren Rechten verletzt: das Kammergericht habe die Ausstrahlung des Benachteiligungsverbots auf das Zivilrecht nicht berücksichtigt. Die wesentlichen Entscheidungsgründe habe ich kurz zusammengefasst. Eine mit Quellennachweisen und einer Bewertung versehene Version dieser Zusammenfassung finden Sie in der Gesamtdarstellung der BVerfG-Entscheidungen zum Benachteiligungsverbot auf S. 19 f. (s. auch weiter unten „Die Rechtsprechung des BVerfG“)


Das Benachteiligungsverbot hat Jubiläum!

Der  15. November 1994 war ein historischer Tag für die Menschen mit  Behinderung in Deutschland: An diesem Tag trat die Ergänzung des Artikel 3 Abs. 3 des Grundesetzes durch den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“,  in Kraft. Aus diesem Anlass widme ich dem Benachteiligungsverbot mit  einer kleinen Verspätung (wir schreiben den 2. Dezember 2019) eine  eigene Seite. Hier finden Sie künftig neben einer Darstellung des Zustandekommens dieser Grundgesetz-Ergänzung Informationen über Gerichtsurteile (vor allem  des Bundesverfassungsgerichts), die diesen abstrakten Satz  seither mit tatsächlichem Leben erfüllt haben, aber auch die Grenzen des  mit ihm Geregelten verdeutlichen. Einer der von diesem Gericht  aufgestellten und in seinen Entscheidungen immer wieder betonten  Grundsätze lautet nämlich: „Nicht jede Benachteiligung ist eine verbotene Benachteiligung.“  Was das im Einzelnen bedeutet, werden Sie den weiter unten auf dieser Seite dargestellten  Entscheidungen entnehmen können.


Zur Historie des Benachteiligungsverbots

Wie ist es seinerzeit überhaupt zur Einfügung des Benachteiligungsverbots in das Grundgesetz gekommen? Möglich wurde sie nicht zuletzt dadurch, dass die im Jahr 1990 erfolgte Vereinigung Deutschlands (rechtlich genauer: der Beitritt der DDR zur BRD) auch eine Verfassungsdiskussion auslöste, bei der sogar die Erarbeitung einer völlig neuen Verfassung im Raum stand (dieser Anspruch ist im 1949 verabschiedeten Grundgesetz der BRD formuliert worden). Letztlich entschloss man sich zu einer Überarbeitung des Grundgesetzes. Dass dabei die Einfügung eines Benachteiligungsverbots von Anfang an im Raum stand, aber denoch fast am Widerstand der seinerzeitigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP gescheitert wäre, und eine Kurzdarstellung der Gesetzesmaterialien können Sie der von mir erstellten Ausarbeitung „Wie entstand das Benachteiligungsverbot entnehmen.


Die Rechtsprechung des BVerfG

Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG muss zunächst einmal sehr abstrakt erscheinen. Zwar ist bereits in der Gesetzesbegründung festgehalten, dass es sowohl die Gesetzgebung als auch die staatliche Gewalt und die Rechtsprechung (also die Gerichte bzw. die von ihnen zu treffenden Entscheidungen) bindet, aber was bedeutet das konkret? Letztlich hat hierüber das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu entscheiden. Seit dem Inkrafttreten der Bestimmung sind insgesamt dreizehn Entscheidungen dieses höchsten deutschen Gerichts verkündet worden. Vierzehn von ihnen sind in meiner Ausarbeitung „Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dargestellt. Die fünfzehnte ist nicht in diese Übersicht aufgenommen worden, weil es in dem Verfahren lediglich um die Verweigerung von Rechtsmitteln (Zulassung einer Berufung) ging, um den Anspruch auf einen geltend gemachten Nachteilsausgleich durchsetzen zu können; in dieser Entscheidung sind keine inhaltlichen Aussagen des BVerfG zum Benachteiligungsverbot enthalten.

Die zwei wohl bedeutendsten Entscheidungen zu diesem Komplex hat das BVerfG erst im Jahr 2019 gefällt; sie betrafen einen Rechtszustand, der einem Teil der behinderten Menschen das vornehmste Recht vorenthielt, das diese Staatsform zu vergeben hat: das Wahlrecht. Wegen der herausragenden Bedeutung dieser Entscheidungen habe ich ihnen eigene Artikel gewidmet, die Sie nachfolgend auf dieser Seite finden. Neben Links zum jeweiligen Entscheidungstext finden Sie dort von mir erstellte Zusammenfassungen sowie weitere Materialien zum Thema.

Seit 2015 sind drei Verfahren beim BVerfG anhängig, zu denen bis Dezember 2019 auf der Homepage des Gerichts kein Entscheidungstext eingestellt ist. Sie betreffen die Frage, ob und ggfls. weliche Nachteilsausgleiche Schüler/innen mit Lese-Rechtschreibschwäche bei der Benotung ihrer Leistungen zustehen (können). Ich werde versuchen, diese Vorgänge im Auge zu behalten und über die entsprechenden Entscheidungen zeitnah zu informieren.


Wie ernst nimmt Berlin die UN-Konvention?

Seit  dem Inkrafttreten der UN-BRK gab es in Deutschland eine Diskussion  darüber, ob der seit Gründung der Bundesrepublik bestehende, nur vom  Wortlaut her neuen Gegebenheiten angepasste Ausschluss vom Wahlrecht für  Menschen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten vom hierfür  zuständigen Amtsgericht angeordnet war, mit diesem Regelwerk noch  vereinbar sei. Bereits im Jahr 2011 hatte die Bundesregierung eine „Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung“ in Auftrag gegeben. Deren Ergebnis wurde im Juli 2016 im gleichnamigen „Forschungsbericht 470“ vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlicht. Das Ergebnis lautete, dieser Wahlrechtsausschluss sei „verfassungsrechtlich unbedenklich“,  weshalb offenbar seitens der Bundesregierung kein weiterer  Handlungsbedarf gesehen wurde. Dies ist möglicherweise auch darauf  zurückzuführen, dass eine Gruppe von Menschen, die von diesem  Wahlrechtsausschluss betroffen war, nach der Bundestagswahl 2013 gegen  ihren Ausschluss von dieser Wahl Klage vor dem Bundesverfassungsgericht  (BVerfG) erhoben hatte, über die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des  Forschungsberichts noch nicht entschieden war. Diese Klage wiederum war  erst durch eine im Jahr 2012 erfolgte Änderung des Gesetzes über das  Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) möglich geworden.

Offenbar  die am 26. Mai 2019 anstehende Wahl zum Europäischen Parlament  (Europawahl) hatte die Oppositionsparteien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE  LINKE und FDP veranlasst, im August/September 2018 zwei Gesetzentwürfe  in den Deutschen Bundestag einzubringen, die eine Aufhebung der  bisherigen Wahlausschlüsse (neben dem oben beschriebenen Personenkreis  waren auch Menschen betroffen, die durch eine Gerichtsentscheidung in  ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen waren) bereits rechtzeitig  vor dieser Wahl erreichen wollten. Während der parlamentarischen  Beratung dieser Gesetzentwürfe wurde am 21. Februar 2019 die am 29.  Januar 2019 gefällte Entscheidung des BVerfG über die oben erwähnte  Klage veröffentlicht. Diese besagte nun,  dass die im § 13 Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) geregelten  Wahlausschlüsse nicht mit dem Grundgesetz vereinbar seien (s. Artikel „Bundesverfassungsgericht kippt Wahlausschluss behinderter Menschen“ auf dieser Seite).  Sie betraf zwar formal nur das BWahlG; da die fraglichen Regelungen im  Europawahlgesetz jedoch gleichlautend waren, war relativ klar, dass auch  diese mit dem Grundgesetz nicht vereinbar waren. Folgerichtig wurde in  einer von den Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD am 12. März 2019 im  Deutschen Bundestag eingebrachten Beschlussempfehlung angekündigt, die  vom BVerfG beanstandeten Wahlrechtsausschlüsse mit Wirkung vom 1. Juli  2019 an sowohl im Bundes- als auch im Europawahlgesetz zu beseitigen und  zugleich flankierende Regelungen zu erlassen, um möglichen Missbräuchen  vorzubeugen. Eine Aufhebung bereits zur im Mai stattfindenden  Europawahl sei aus europarechtlichen Gründen nicht mehr möglich. (Erst  anlässlich meiner Suche nach der entsprechenden Bundestags-Drucksache  stieß ich auf die erwähnten, von den Oppositionsfraktionen eingebrachten  Gesetzentwürfe.) Obwohl also die BVerfG-Entscheidung bekannt und ein  (eigener) Gesetzentwurf zu deren Umsetzung angekündigt waren, wurden die  erwähnten Gesetzentwürfe bei der Schlussabstimmung am 15. März 2019 mit  der Mehrheit der Stimmen der Regierungskoalition abgelehnt. Diesen  Vorgang hatte ich bereits seinerzeit kritisch hinterfragt.

Wie  in der Debatte zu dieser Schlussabstimmung angekündigt, zogen in der  Folge 210 (!) Abgeordnete der genannten Oppositionsparteien vor das  BVerfG und beantragten dort den Erlass einer Einstweiligen Anordnung, um  den nach dem Willen der Regierungsfraktionen auch nach der eindeutigen  Entsche.idung dieses Gerichts vom 29. Januar 2019 weiterhin von der  Teilnahme an der Europawahl Ausgeschlossenen doch noch die Teilnahme an  dieser zu ermöglichen. Mit Urteil vom 15. April 2019 erließ das BVerfG  eine entsprechende Anordnung: Wer im Rahmen eines Antrags oder einer  Beschwerde bei der zuständigen Behörde die (nachträgliche) Aufnahme in  das Wählerverzeichnis beantragte, konnte bei der Europawahl seine Stimme  abgeben.
Über  einen längeren Zeitraum war selbst auf der Homepage des BVerfG eine  Begründung dieses Urteils nicht verfügbar. Erst als ich Ende November  2019 wegen anderer Recherchen wieder einmal diese Website aufsuchte,  stieß ich auf diese.  Ihr ist u.a. zu entnehmen, dass zur mündlichen Verhandlung in dieser  Sache auch ein Beschluss des Deutschen Bundestages vorgelegt wurde, der  eine Abweisung des Antrags auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung  fordert. Dieser kann nach Lage der Dinge nur von der Mehrheit der  Regierungsfraktionen verabschiedet worden sein. Bemerkenswert ist  jedoch, dass die Verfassungsrichter in ihren Entscheidungsgründen nahezu  alle gegen die Aufhebung der Wahlausschlüsse vorgebrachten Argumente  entweder als unbegründet oder als nicht stichhaltig erachtet haben. Wer  sich nicht das gesamte Urteil zu Gemüte führen möchte, kann dies in meiner Zusammenfassung nachlesen.

Die  darin aufgeworfenen Fragen an die Fraktionsführungen der  Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD habe ich mit Schreiben vom 2.  Dezember 2019 auch den Vorsitzenden der beiden Fraktionen, Ralph Brinkhaus und Dr. Rolf Mützenich,  gestellt. Mir scheint es, als sei insbesondere bei der CDU/CSU die  Bedeutung der mit der UN-BRK eingegangenen Verpflichtungen noch immer  nicht hinreichend ins Bewusstsein gedrungen. Die SPD hatte in den  parlamentarischen Beratungen zu den von den Oppositionsfraktionen  eingebrachten Gesetzentwürfen zwar einerseits deutlich gemacht, dass sie  eigentlich für eine Aufhebung der Wahlausschlüsse sei, die Ablehnung derselben aber andererseits ganz offen mit der „Koalitionsräson begründet.  Dies kann man ihr sowohl zugute halten als auch vorwerfen, letzteres  auch, weil ich kaum glaube, dass ein von der Haltung der Unionsfraktion  abweichendes Abstimmungsverhalten in dieser Frage tatsächlich zum Bruch der „GroKo“ hätte führen können. Antworten auf meine Anfragen werde ich an dieser Stelle bekannt machen.


Bundesverfassungsgericht kippt Wahlausschluss behinderter Menschen

Das  Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 21. Februar 2019 einen  Beschluss veröffentlicht, dem zufolge der generelle Ausschluss von  Menschen vom Wahlrecht, für die eine Betreuung in allen Bereichen angeordnet ist, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Zu dieser Entscheidung kann ich Ihnen neben der sehr umfangreichen Pressemitteilung des BVerfG weitere Dokumente anbieten. Zunächst finden Sie hier den vollständigen Entscheidungstext, heruntergeladen von der Homepage des BVerfG.  Dieser enthält sehr interessante Einzelheiten: u.a. ist ihm zu  entnehmen, weshalb erst jetzt eine Entscheidung zur Problematik dieser  Wahlausschlüsse erfolgen konnte und seitens der politisch  Verantwortlichen nicht schon vorher gehandelt wurde. Wer sich nicht  durch die immerhin 44 Seiten dieser Entscheidung kämpfen möchte, findet  hier eine von mir erstellte und mit Erläuterungen sowie einer Bewertung  versehene Zusammenfassung. Eine Kurzfassung derselben  berichtet lediglich über den Tenor der Entscheidung und stellt die  wichtigsten Elemente der Begründung dar. Bereits im September 2012 (!)  hatten insgesamt 22 Selbsthilfe-Verbände behinderter Menschen in einem Positionspapier die Aufhebung dieses Wahlausschlusses gefordert.

Inzwischen  hat die Bundesregierung ihre nach der Veröffentlichung dieser  Entscheidung gemachte Ankündigung verwirklicht und mit Wirkung vom 1.  Juli 2019 nicht nur die Wahlausschlüsse beseitigt, sondern auch  ergänzende Regelungen vom Deutschen Bundestag verabschieden lassen, die  Hilfestellungen für Menschen mit Behinderungen beim Wahlvorgang regeln  und Missbräuche der Hilfspersonen hierbei unter Strafe stellen. Nähere  Informationen finden Sie hier.


Was bedeutet Benachteiligung

Ende 2018 habe ich mich im Zusammenhang mit der Frage, welche Auswirkungen die Zulassung von Methoden der vorgeburtlichen Diagnostik auf das Lebensrecht behinderter Menschen haben, mit der Bedeutung des Wortes „seiner“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auseinandergesetzt. Hintergrund war die Überlegung, dass rein sprachlich für den Zweck, Benachteiligungen behinderter Menschen zu verbieten, das Wort „einer“ ebenso ausreichend gewesen wäre. Diese Überlegung stand wiederum im Zusammenhang mit dem Umstand, dass bestimmte Behinderungen vor der Geburt durch entsprechende Diagnostik mit einiger Wahrscheinlichkeit erkannt werden können, was wegen der Rechtsprechung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch und der aus ihr folgenden Rechtslage das Lebensrecht der betroffenen Föten infrage stellt. Ist dagegen eine Behinderung nicht vor der Geburt diagnostizierbar, bleibt das Lebensrecht dieser Föten unangetastet. Wenn nun jemand wegen „seiner“, also der nur ihm eigenen, Behinderung nicht benachteiligt werden darf, dann bedeutet die Infragestellung des Lebensrechts der Kinder, deren Behinderung mittels vorgeburtlicher Diagnostik feststellbar ist, durch die Möglichkeit der Mutter, diese Schwangerschaft unter bestimmten Voraussetzungen abzubrechen, möglicherweise eine verbotene Benachteiligung gegenüber den Kindern, bei denen die Behinderung nicht vorgeburtlich erkennbar ist. Die Analyse der Gesetzesmaterialien und der bis Ende 2018 ergangenen Rechtsprechung des BVerfG zum Benachteiligungsverbot ergab jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Wort „seiner die von mir vermutete (und immerhin nicht von vornherein auszuschließende) Bedeutung zukommen könnte.




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