Das Recht auf inklusive Beschulung - Politik für Menschen mit Handicap

Politik für Menschen mit Handicap
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„Was nicht erst getrennt wird, muss hinterher nicht integriert werden.“ (Richard von Weizsäcker , ehemaliger Bundespräsident)

Das Recht auf inklusive Beschulung


Mitwachsende Toilette als Sprungbrett für Inklusion?

Wir schreiben den 31. August 2021. In den meisten Bundesländern hat das neue Schuljahr begonnen, in anderen steht der Schulstart nach mehr als einem Jahr „Corona“-bedingter Einschränkungen (die leider noch immer nicht vollständig überwunden sein werden) kurz bevor. Es ist davon auszugehen, dass die Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in noch stärkerem Maße unter den genannten Einschränkungen zu ledien hatten als ohnehin alle anderen; umso mehr sollte sich der Blick ein wenig nach vorne richten. Hierzu möchte ich einen Beitrag leisten. Möglicherweise ist er vergleichsweise bescheiden, möglicherweise stellt er aber auch für einige eine nicht ganz unwichtige Anregung dar.

Körperbehinderte Schülerinnen und Schüler brauchen in vielen Fällen relativ wenig personelle Unterstützung (abgesehen selbstverständlich von notwendigen Assistenzleistungen), aber bauliche Anpassungen sind für sie unverzichtbar. Ein besonderes Problem dürften häufig die Toiletten darstellen. Vor wenigen Tagen habe ich über den Newsletter des Portals nullbarriere.de den Hinweis auf eine „mitwachsende“ Toilette erhalten. Vielleicht können Leser*innen dieses Artikels, die Eltern oder Elternteil eines behinderten, zur inklusiven Beschulung anstehenden Kindes sind, diesen Hinweis an eine Schule weitergeben, die sie für die Beschulung ihres Kindes in Anspruch nehmen möchten, deren Räumlichkeiten speziell im Bereich der Sanitärräume aber noch nicht die notwendigen Voraussetzungen aufweisen.


NRW-Antwort zur Inklusionskritik liegt vor

In einem dreiseitigen Brief vom 20. Juni 2019 an die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer hatte ich ihr meine Bedenken gegen die nordrhein-westfälischen Pläne zur weiteren Umsetzung der schulischen Inklusion mitgeteilt. Diese sehen vor, nur noch in ausgewählten, personell besonders ausgestatteten weiterführenden Schulen das Angebot gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne Behinderung vorzuhalten. Hiergegen habe ich insbesondere ins Feld geführt, dass hierdurch für die betroffenen Kinder weitere Schulwege als im Einzelfall unbedingt notwendig entstehen werden. Dies werde zu einer weiteren Einschränkung der für die Erledigung von Schulaufgaben und für die Freizeit zur Verfügung stehenden Zeit führen, die wegen notwendiger Therapiemaßnahmen ohnehin schon geringer sei als bei Kindern ohne Behinderung. Eine Folge hiervon könne wiederum sein, dass auf das dem Kind zustehende Recht auf inklusive Beschulung verzichtet werde, wodurch ihm durchaus vorhandene Entwicklungschancen genommen würden. Für solche Kinder entstünden der Gesellschaft unter Umständen lebenslange Folgekosten. Zudem habe ich auf den Umstand hingewiesen, dass auch den nicht behinderten Kindern, die durch die Beschränkung der Zahl der Schulen vom gemeinsamen Unterricht ausgeschlossen werden, Entwicklungschancen genommen werden, da alle einschlägigen Studien belegen, dass auch diese vom gemeinsamen Unterricht profitieren.

Zu meiner Überraschung erhielt ich Anfang August 2019 ein ausführliches Antwortschreiben des Ministeriums. Die darin enthaltenen sehr wortreichen Ausführungen vermögen jedoch nicht wirklich zu überzeugen. So wird etwa auf S. 2 des Schreibens ausgeführt, dass ein Rückgang der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung an Schulen des Gemeinsamen Lernens „aus ersten Hinweisen nicht ersichtlich“ sei. Diese Aussage ist jedoch in keiner Weise geeignet, die von mir geäußerten Bedenken zu entkräften, eine Bündelung der Standorte von Schulen mit Inklusionsangebot könne dazu führen, dass Eltern auf das ihren Kindern zustehende Recht auf inklusive Beschulung verzichten könnten. Vielmehr müsste dargelegt werden können, dass trotz dieser Bündelung eine weiter steigende Zahl von Anmeldungen zu verzeichnen ist. Auch die Antwort auf den von mir vorgetragenen Vorschlag, NRW möge bei der Lehrerausbildung eine Vorreiterrolle übernehmen und sonderpädagogische Grundkenntnisse zu einem Bestandteil der allgemeinen Lehrerausbildung machen, erscheint eher wie ein Ausweichmanöver. Eine „Befähigung zur individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern und zum Umgang mit Heterogenität“ (S. 3 des Schreibens) dürfte wohl kaum sonderpädagogische Kenntnisse bzw. Fähigkeiten ersetzen. Diese Einschätzung wird m.E. auch durch die Ausführungen über die Steigerung der Kapazitäten für die sonderpädagogische Ausbildung an den Hochschulen (ebenda) belegt: Hier werden wieder spezielle pädagogische Kräfte ausgebildet, anstatt alle angehenden Lehrer wenigstens mit Basiskenntnissen auszustatten, die dann bei Bedarf realtiv unproblematisch vertieft werden können. So könnten „Manpower“ und letztlich auch finanzielle Ressourcen sowohl bei der Ausbildung von Lehrkräften als auch bei deren Bezahlung eingespart werden. (Wenn ich einem nicht mit sonderpädagogischen Kenntnissen ausgestatten Lehrer einen Sonderpädagogen zur Seite stellen muss, damit eine Schule den Inklusionsauftrag angemessen erfüllen kann, muss ich zwei Lehrkräfte ausbilden und bezahlen. Integriere ich die sonderpädagogischen Inhalte in die allgemeine Lehrerausbildung, spare ich sowohl die Kosten für die Ausbildung des Spezialisten als auch die für dessen Bezahlung. Eine spätere Vertiefung von Kenntnissen dürfte weit weniger kostenintensiv sein als die Ausbildung des Spezialisten. Zudem würde dem Problem vorgebeugt, dass eine Ausweitung des Ausbildungskapazitäten dann nichts bringt, wenn es an Bewerbern mangelt.)

Aus diesem gegebenen Anlass habe ich mir auch einmal die im übernächsten Artikel erwähnte aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Entwicklung der schulischen Inklusion ein wenig näher angeschaut. Sie belegt, dass es zwar Fortschritte bei der Entwicklung der Inklusion gibt, diese jedoch vergleichsweise bescheiden ausfallen. So zeigt eine die angegebene Quelle ergänzende Studie (um nur zwei Ergebnisse beispielhaft herauszugreifen), dass sich die Fortschritte bei der Inklusion im Zeitraum 2008/09 - 2016/17 nahezu ausschließlich auf Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt Lernen/Sprache“ beziehen, während für die mit anderen Förderschwerpunkten praktisch keine Verbesserung festgestellt werden kann, und dass die Zahl der in einer Förderschule unterrichteten Kinder mit Förderbedarf effektiv gerade einmal um knapp 43.000 gesunken ist. Besonders erschütternd ist für mich, dass sich auch im Förderschwerpunkt „körperliche und motorische Entwicklung“ keine Verbesserung der Lage ergeben hat, bin ich doch bisher davon ausgegangen, dass (abgesehen von der Überwindung baulicher Barrieren) hier der Aufwand für eine Verwirklichung gemeinsamer Beschulung noch am geringsten sein würde.


Bundessozialgericht stärkt Anspruch auf Integrationshelfer

Das Bundessozialgericht hat den Anspruch von Kindern mit Behinderung auf schulische Integrationshelfer gestärkt. In zwei Entscheidungen vom 6. Dezember 2018 Az. B 8 SO 4/17 R und B 8 SO 7/17 R entschieden die Richter, dass ein grundsätzlicher Anspruch behinderter Kinder auf einen Integrationshelfer auch für Angebote an Nachmittagen bestehen kann. Im Wesentlichen ging es um die Frage, ob das Angebot der Offenen Ganztagsschule (OGS) insbesondere der Unterstützung, Erleichterung oder Ergänzung der pädagogischen Arbeit dient. Wenn dies der Fall sei, dann sei auch der für den Besuch der OGS notwendige Integrationshelfer der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (und nicht der allgemeineren Hilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) zuzuordnen. Da dies für das Gericht aus den Feststellungen der Vorinstanzen nicht eindeutig zu erkennen war, mussten die beiden Verfahren zur endgültigen Entscheidung an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen werden. Die Zuordnung der Finanzierung des Integrationshelfers ist deshalb so bedeutsam, weil die Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung ohne Anrechnung von Einkommen oder Vermögen der Eltern zu leisten sind, die Hilfen zur Teilhabe im Leben in der Gemeinschaft dagegen nicht (s. auch Pressemeldungen 51 und 52 vom 04.12.2018 bzw. 06.12.2018).


Stand der schulischen Inklusion in Deutschland

Eine sachgerechte und die Belange der behinderten Kinder angemessen berücksichtigende Umsetzung des Rechts auf inklusive Beschulung ist – wie auch aus dem nachfolgenden Artikel bzw. dem ihm zugrunde liegenden Gutachten hervorgeht angesichts der historischen Entwicklung in Deutschland und der hierdurch bedingten Komplexität der zu ergreifenden Maßnahmen sicher ein sehr langwieriger Prozess. So hat es in einigen Bundesländern bis zu fünf Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK gedauert, bis überhaupt eine Anpassung des Schulgesetzes an die Vorgaben des Vertragswerkes erfolgte. Diese entsprach dann in vielen Fällen nur sehr bedingt dessen Vorgaben und beinhaltet durchweg z.T. sehr lange Übergangsfristen. Zudem entstehen immer wieder politische Diskussionen darum, inwieweit eine (schnelle) Umsetzung der Vorgaben möglich bzw. überhaupt sinnvoll sei. Ein erstes Dokument hierzu stellt eine Pressemeldung vom 18. März 2013 dar, in der der seinerzeitige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, auf eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Stand der Umsetzung des Anspruchs auf schulische Inklusion in Deutschland und in den einzelnen Bundesländern hinweist. Auch für das Jahr 2018 gibt es eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zu diesem Thema. Einen guten Überblick über die Gesamtproblematik bietet das Fachportal der Aktion Mensch. Welche Hindernisse die deutsche Politik der schulischen Inklusion in den Weg liegt, ist bereits im Jahr 2013 in einem Schwarzbuch dokumentiert worden, auf das ich bei den Recherchen zur Überarbeitung dieser Seiten gestoßen bin.


Auswirkungen der UN-BRK auf das deutsche Schulsystem

Eine der entscheidenden Forderungen der UN-BRK an die Vertragsstaaten ist die nach der Beschulung von Kindern mit Behinderung in allgemeinen Schulen (auch Regelschulen  genannt). Diese Forderung bedeutet eine große Herausforderung für die deutschen Bundesländer, da fast alle Schulgesetze bei Inkrafttreten der UN-BRK deren Anforderungen nicht entsprachen. Für viele Eltern behinderter Kinder stellt sich die Frage, ob die Schulgesetze des jeweiligen Landes die Unterrichtung behinderter Kinder in Regelschulen vorsehen bzw. ob sie überhaupt zugelassen wird. Dies ist aber von entscheidender Bedeutung dafür, ob ein Kind mit Behinderung seinen Anspruch auf den Besuch einer Regelschule überhaupt durchsetzen kann.

Mit all den Fragen, die sich aus dem Anspruch auf die so genannte inklusive Beschulung für Kinder mit Behinderung ergeben, hat sich der Völkerrechtsexperte Prof. Dr. Eibe Riedel in einem Gutachten auseinandergesetzt, das er für die Interessengemeinschaft „Gemeinsam leben gemeinsam lernen“ und den Sozialverband Deutschland (SoVD) erstellt hat. Dieses Gutachten ist leider für Menschen ohne juristische Kenntnisse nur schwer verständlich. Daher habe ich mir die Mühe gemacht, in einem Artikel die wichtigsten Erkenntnisse dieses Gutachtens  in (hoffentlich) verständlicher Form darzustellen. Mit der Veröffentlichung dieses Artikels an dieser Stelle verbinde ich die Hoffnung, dass hierdurch mehr Kinder mit Behinderung bzw. ihre Eltern in  die Lage versetzt werden, den sich aus der UN-Konvention ergebenden  Anspruch auf Unterrichtung an einer Regelschule geltend zu machen. Nur so können nach meiner festen Überzeugung die Chancen auf eine  angemessene gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung verbessert werden. Durch die Ausführungen von Prof. Riedel sehe ich auch meine Vision einer Schule für alle bestätigt, wie sie in meinem auf diesen Seiten veröffentlichten „Konzept einer neuen Politik zu Gunsten von Menschen mit Handicap“ bereits im Jahr 2006 beschrieben ist.


Übersicht über die Schulgesetze

Die Regelungen zu der Frage, wie die schulische Inklusion im einzelnen funktioniert bzw. funktionieren soll, finden sich im Schulgesetz des jeweiligen Bundeslandes. Eine Auflistung der Schulgesetze finden Sie auf dem Webauftritt der Kultusministerkonferenz (KMK).




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