Die Behandlung von Spastik mit THC - Politik für Menschen mit Handicap

Politik für Menschen mit Handicap
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„Was nicht erst getrennt wird, muss hinterher nicht integriert werden.“ (Richard von Weizsäcker , ehemaliger Bundespräsident)

Die Behandlung von Spastik mit THC


Regeln für die Verordnung medizinischer Cannabis-Produkte in Kraft getreten

Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Patientenvertretern (G-BA) am 16. März 2023 beschlossene Änderung der Arzneimittel-Richtlinie, mit der durch die Einfügung entsprechender Bestimmungen in das Regelwerk verbindliche Regelungen für die Verordnung von Cannabis-Produkten bei schwerwiegenden Erkrankungen geschaffen werden sollten, ist nach ihrer Verkündung im Bundesanzeiger am 30.06.2023 in Kraft getreten. Die Änderungen der Richtlinie finden sich im § 4a und im Abschnitt N (§§ 44, 45) . (Eine schwerwiegende Erkrankung liegt dann vor, wenn sie lebensbedrohlich ist oder durch sie die Lebensqualität dauerhaft nachhaltig beeinträchtigt ist.)

In dem Beschluss legt der G-BA zunächst Qualitätsanforderungen fest. Dies ist einer aus Anlass der Beschlussfassung herausgegebenen Pressemitteilung zufolge erforderlich, weil die betroffenen Cannabisprodukte ... zum Teil gar nicht – bzw. nicht  für den hier geregelten Einsatz – als Arzneimittel zugelassen und  dementsprechend auch in keinem Zulassungsverfahren auf Sicherheit,  Wirksamkeit und Qualität geprüft worden.[sind]“. Die verfahrenstechnischen Regekungen werden in dieser Pressemeldung wie folgt dargestellt:
1. Nur die Erstverordnung von Cannabis sowie ein grundlegender  Therapiewechsel bedürfen der Genehmigung durch die Krankenkassen.  Folgeverordnungen, Dosisanpassungen oder der Wechsel zu anderen  getrockneten Blüten oder zu anderen Extrakten in standardisierter Form  bedürfen keiner erneuten Genehmigung. Sofern eine Genehmigung für eine  Therapie mit Cannabis bereits vor Inkrafttreten der neuen Regelungen des  G-BA erteilt worden ist, gilt diese auch weiterhin.
2. Die Erstgenehmigung darf von den Krankenkassen nur in begründeten Ausnahmefällen versagt werden.
3. Cannabis-Verordnungen im Rahmen der Spezialisierten Ambulanten  Palliativversorgung (SAPV) bedürfen grundsätzlich keiner Genehmigung.
4. Im Rahmen der Allgemeinen Ambulanten Palliativversorgung (AAPV) oder bei  Beginn einer Cannabistherapie bereits während einer stationären  Behandlung besteht zwar eine Genehmigungs­pflicht, die Prüffrist der  Krankenkassen beträgt hier aber nur drei Tage.*)
5. Es gibt keinen Facharztvorbehalt für die Verordnung von medizinischem  Cannabis, das heißt alle Ärztinnen und Ärzte sind verordnungsbefugt.  Dies ist vor allem für die Versorgung von Patientinnen und Patienten in  der AAPV und der SAPV von erheblicher Bedeutung, weil hier  Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner große Teile der  Patientenversorgung sicherstellen.

Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass dieser Beschluss erst sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung erfolgt. Dies ist der im Gesetz enthaltenen Regelung geschuldet, dass nach deren Inkrafttreten zunächst im Rahmen einer bis zum 31. März 2022 befristeten Begleiterhebung Daten über die Anwendung der gesetzlichen Regelung erhoben wurden. Erst auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Erhebung durfte der G-BA die Beschlussfassung in die Wege leiten.

*) Die „normale“ Entscheidungsfrist der Krankenkassen über einen Leistungsantrag beträgt höchstens drei Wochen, bei der Notwendigkeit einer gutachtlichen Stellungnahme höchstens fünf Wochen (§ 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V).


Bundessozialgericht präzisiert Vorgaben für Cannabis-Verordnungen

In vier Urteilen hat das Bundessozialgericht (BSG) am 10. November 2022 Vorgaben für eine Verordnung von Cannabis-Präparaten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) formuliert und damit gleich eine ganze Reihe von Unsicherheiten beseitigt, die seit der grundsätzlich geschaffenen Möglichkeit einer solchen Verordnung im Jahr 2017 (vgl. Artikel „Kann Cannabis bei Spastik helfen?“ weiter unten auf dieser Seite) entstanden waren. Insgesamt hat es die Verordnungskompetenzen der Ärzt*innen wesentlich gestärkt, ihnen dabei jedoch bei bestimmten Fallgestaltungen auch umfangreiche Begründungs- und Darlegungspflichten auferlegt. Dies allerdings durchaus im Sinne der betroffenen Patient*innen, da im Gegenzug die Ablehnungsmöglichkeiten der Kostenübernahme seitens der Krankenkassen stark begrenzt worden sind. Auch am 20.12.2022 liegen die Urteile noch nicht im Wortlaut vor; eine sehr gute Darstellung eines bereits am Tag der Entscheidungen veröffentlichten „Terminberichts“ mit allen wesentlichen Gesichtspunkten der Entscheidungen findet sich jedoch auf der Seite von DAZ.online. Dieser ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen, weshalb ich an dieser Stelle gerne auf sie verweise. Sie enthält auch einen Link auf den erwähnten Terminbericht.


Filmprojekt „Cannabis in der Medizin

Die Erkenntnis, dass Cannabis (bzw. Cannabinoide) durchaus sinn- und vor allem wirkungsvoll in der Medizin eingesetzt werden können, setzt sich auch in Deutschland immer mehr durch. Das „Medienprojekt Wuppertal hat nun mit Betroffenen einen Film produziert, der verschiedene mögliche Anwendungsgebiete von Cannabinoiden in der Medizin anschaulich verdeutlichen soll. Hier geht es zu weiteren Informationen über dieses Projekt. Es ist zu hoffen, dass mit ihm ein auch politischer Anstoß gegeben werden kann, den Einsatz von Cannabis-Produkten auf weitere medizinische Anwendungsfelder zu erweitern.


Kann Cannabis bei Spastik helfen?

Die Behandlung von Spastiken bzw. spastischen Bewegungsstörungen beschränkt sich im Rahmen der Schulmedizin bislang auf physiotherapeutische Maßnahmen, die Behandlung mit Botulinumtoxinen und den Einsatz von Medikamenten, die den Muskeltonus vermindern. Diese Medikamente dämpfen allerdings das zentrale Nervensystem ganz allgemein, so dass ihr Einsatz den Patienten müde macht und seine Aufmerksamkeit sowie Konzentrationsfähigkeit vermindert. Darüber hinaus wird der Muskeltonus allgemein verringert; hierdurch entsteht bei vielen betroffenen Patienten der (subjektive und oft auch objektiv nachweisbare) Eindruck der Kraftlosigkeit bzw. Schwäche. Sowohl Patienten als auch Therapeuten empfinden diese Situation zunehmend als unbefriedigend und suchen nach Auswegen. Einer dieser Auswege schien bereits seit längerer Zeit in der Anwendung von Cannabis-Präparaten zu bestehen, die von betroffenen Patienten mit  unterschiedlichen, aber allesamt neurologischen Diagnosen mit gutem, z.T. sehr gutem Erfolg angewendet wurden. Zwar war vor einigen Jahren die Möglichkeit geschaffen worden, bei speziellen Erkrankungen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Ausnahmegenehmigung für den Anbau von Cannabispflanzen zu beantragen; diese Anträge wurden nach meinen Informationen jedoch nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich gestellt und noch seltener positiv beschieden. Vielfach blieb den Betroffenen nur der Weg in die Illegalität mit der Gefahr der Strafandrohung wegen Besitzes von Betäubungsmitteln.

Seit dem 10. März  2017 besteht jedoch die legale Möglichkeit für Ärzte, die Patienten mit schweren Erkrankungen behandeln, diesen Cannabis-Präparate zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen zu verordnen. Grundlage hierfür ist das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017, das am 9. März 2017 im Bundesgesetzblatt Teil I veröffentlicht worden ist. Die wichtigsten Fakten zu dieser Neuregelung hat das Deutsche Ärzteblatt in seiner Ausgabe vom 24. Februar 2017 zusammengefasst. Allerdings scheint es so zu sein, dass den Ärzten die  genauen Modalitäten der Verschreibung jedenfalls flächendeckend noch nicht bekannt sind (Stand: 16. März 2017).

Zwar ist die  Durchführung dieser Neuregelung (wieder einmal) für die behandelnden Ärzte mit einem Mehraufwand u.a. an Bürokratie verbunden; dennoch ist zu hoffen, dass die mit der Gesetzesänderung verbundene Absicht des Gesetzgebers verwirklicht werden kann, die Behandlung schwer behinderter und/oder kranker Menschen entscheidend zu verbessern. Schließlich setzt sich in immer mehr Ländern die Erkenntnis durch, dass die Behandlung mit Cannabinoiden oft wirksamer und für den Patienten mit weniger Nebenwirkungen verbunden ist als die mit chemischen Keulen.

Weitere Informationen über den medizinischen Einsatz von Cannabis bzw. THC erhalten Sie über die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM).


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